The Boy Who Followed Mele

The Boy Who Followed Mele


Marlene Bürgi

«The boy who followed Mele»
1.4. - 20.5.2023

1956 stellt die US-amerikanische Schriftstellerin Patricia Highsmith den ominösen Thomas Phelps Ripley vor, der in insgesamt fünf Romanen als bezaubernder Anti-Held agiert. In The Boy Who Followed Ripley (1980), Highsmiths viertem Teil der Bücherreihe, trifft der junge Ausreisser Frank auf den talentierten Trickbetrüger Tom Ripley. Im Auftrag des Jungen begibt sich Ripley in die zwielichtige Unterwelt des durch den Kalten Krieg gezeichneten West-Berlins. Er wird in einen skurrilen Entführungskomplott hineingezogen, der den eiskalt amoralischen Ripley in einen grossmütigen und mitfühlenden Beschützer verwandelt. Tom entdeckt im Jungen eine jüngere Version seiner selbst, die, ihm nicht ganz unähnlich, vielmehr aufgrund der Umstände als durch Vorsätzlichkeit zum Mörder wurde. Während Ripley schnell über seine Missetaten hinwegkommt, ist Frank von seinem Vergehen geplagt. Highland versetzt auch die Leser:innen in eine moralische Zwickmühle: Trotz seiner kriminellen Machenschaften verkörpert Ripley eine liebenswerte, geradezu menschliche Seite mit der wir uns identifizieren können. Allerdings ist seine wahre Identität weitaus komplexer: Ripley ist ein Meister der Manipulation, dessen wahre Absichten hinter einer sorgfältig konstruierten Maske der Seriosität verborgen
bleiben.
In einer genauso fesselnden wie zwiespältigen Welt bewegt sich auch Martín Mele: Gemeinsam mit dem argentinischen Künstler begeben wir uns auf eine wilde Fahrt durch die aktuelle Ausstellung in der Galerie Mark Müller. Auf der Suche nach seinenfamiliären und künstlerischen Vorfahren gilt es jedoch nicht nur einen Blick zurück in die Vergangenheit zu werfen, wir befinden uns ebenso in der unmittelbaren Gegenwart des Künstlers. Wir lernen Meles bunt schillerndes Universum kennen, an einzelnen Stellen sogar die Künstlerperson selbst. In mancher Hinsicht mag das einem Versteckspiel gleichen, doch liegt die Magie in diesem Fall nicht primär in dem, was sich unserem Blick entzieht, was sich hinter den Masken oder in den verschiedenen Stoffbündeln verbirgt. Vielmehr sind es die vielfältigen Darstellungsebenen, die den einzelnen Werken inhärent sind und sich mal mehr, mal weniger offenbaren: Sie verweisen auf ihre Materialität und Gemachtheit, ihre Wandelbarkeit und Zeitlichkeit, ihre Referenzialität und Reflektivität auf vergangene
und gegenwärtige Geschichten des Künstlers.
Entlang der Wände, auf dem rauen Betonboden und von der Decke der Galerie hängend zeigen sich unterschiedliche Formen, Materialien und Oberflächen. Diese Vielgestaltigkeit mag beflügeln oder überfordern, in ihrer Pluralität figurieren die einzelnen skulpturalen Objekte und Bilder zugleich als Schlüssel für und zueinander. Als «Mise en abyme» – als Verschachtelung oder Bild im Bild – stellen die Werke intertextuelle Bezüge her, wiederholen sich und verweisen teilweise mittels Form, Inhalt oder Titel auf sich, einander und über sich hinaus. Die Erzählungen, die Martín Mele hier orchestriert,überschneiden und überlagern sich, sodass ein komplexes Netz von Zusammenhängen und Metatexten entsteht, das sich voller Illusionen, Schichtungen und (Selbst-)Bezüge über den gesamten Ausstellungsraum legt. Die schmale schwarze Wellenlinie, die an mehreren Orten wiederkehrt, greift den Schnurrbart des surrealistischen Künstlers Salvador Dali auf. Der charakteristisch exzentrische Schnauzer aus Stoff hängt direkt an der Wand (Los Bigotes de Dali,
2023) und kehrt als fotografisches Abbild in Form eines grossen, gerahmten Prints sowie eines kleinen Drucks auf Dibond zurück (Moustache de Dali, 2023; Ohne Titel, 2023). Die geschwungene Linie führt Mele gleichzeitig in mehreren mit Sand
gefüllten Elementen aus Kunstleder weiter. Aufgrund ihrer Konstruktion sind die Arbeiten beweglich und formbar: Sie legen sich sachte über zwei Kugeln aus Aluminium, lassen sich in zwei leuchtend gelbe, mobile Metallständer fallen, stärken
sich gegenseitig den Rücken oder umarmen die beiden ornamentalen Wandhaken (Toblerone, 2023; Würdenträger, 2023; Die goldene Wurst, 2023; Fliegende Nonne, 2023). Letztere zeigen sich erneut in den zwei grossformatigen, grau-schwarzen «Zeichnungen» einer Atelierwand des Künstler (At Night, 2023; Zeichnung (Ohne Titel), 2023). Aus den Textilresten, die Mele genauso wie das Kunstleder direkt in Buenos Aires bezieht, entstehen verschiedenartige Masken: Es sind Masken, die einerseits auf subtile Weise Versatzstücke der Künstlers selbst «maskieren» (Ohne Titel, 2023). Andererseits agieren die unterschiedlichen Stoffe auf Holzstelzen mit runden Gipsfüsschen als farbenfrohes Heer unter dem durchaus zynischen Motto «Enjoy Life Today», wie eines der ehemaligen T-Shirts propagiert. An der Stirnwand blicken uns wiederum elf abfotografierte Textilgesichter hinter glattspiegelnden Plexiglasscheiben entgegen. Die sichtbaren Spuren der Stoffe, jeder Fleck, Fussel oder Riss, gibt den Masken ein Eigenleben, das eine neue Saga zu ihrem ursprünglichen und jetzigen Existenz spinnt.
Martín Meles breit fragmentiertes Materialrepertoire wird dennoch von einem Gefühlder Kontinuität und Kohärenz begleitet. Dabei scheinen die Werke ihre eigene Rolle als Darstellung – als Original oder Reproduktion, als Realität oder Fiktion – zu
befragen und zu kommentieren. Sie erzählen ebenso humorvolle wie ernsthafte Geschichten, die in unseren individuell-menschlichen Erfahrungen fussen und eng mit einer Form der Selbstreflexivität einhergehen. Genau dort tritt auch der Künstler zutage: Mit jeder Ausstellung betrachtet er sich selbst, seine unmittelbare Umgebung, auf der Suche nach seiner sich wandelnden Biografie und Identität. Er blickt zurück auf die Fussstapfen der Vergangenheit, die gleichwohl in die Zukunft führen. «The boy who followed Mele» ist eine Einladung, den Spuren des Künstlers zu folgen und die sorgfältig konstruierten Leerstellen selber mit einer persönlichen Referenz oder einem Augenzwinkern zu füllen.

April 2023